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QR Michael Martin Lienau (1857–1936)

Michael Martin Lienau wurde am 11. Januar 1857 an dieser Stelle, dem Standort des einstigen Lienauhauses in der Oderstraße 15, als jüngstes vom insgesamt zehn Kindern geboren.

Abbildung: Der Frankfurter Altertumsforscher Michael Martin Lienau (1857–1936), Abbildung nach: Alfred Götze, Michael Martin Lienau. In Mannus. Zeitschrift für Deutsche Vorgeschichte, 28. Jahrgang, Heft 4 (1936), S. 539–544, hier: S. 541

Seine Vorfahren stammten aus Holstein und waren dort einstmals Marschbauern. Lienaus Großvater, der Kaufmann Michael Martin Lienau (1786–1861), begab sich vom holsteinischen aus im Jahr 1804 nach Frankfurt, um an der Oder eine Weinhandlung aufzubauen.

Michael Martin Lienaus Vater war der Weingroßhändler Michael Louis Lienau (1811–1885). Lienaus Mutter Sophie (*1818) war eine geborene Wagner.

Das Lienauhaus, bekannt für seine Weinhandlung, zählte zu den angesehensten Patriziergebäuden der Stadt. Kurz nach Michael Martin Lienaus Geburt siedelte die Familie in das ihr ebenfalls gehörende Landhaus in der Halben Stadt um. Hier verlebte Michael Martin Lienau inmitten herrschaftlicher Räumlichkeiten und eines prächtigen Parkes eine glückliche Jugend.

Abbildung: Das „Lienauhaus“ – Stammhaus der Familie Lienau um 1900, Stadt Frankfurt (Oder), Städtisches Museum Viadrina, Inventarnummer VI/2 8166, Verlag von Hermann Schinke, Frankfurt a. Oder Nr. 32, Fotograf: unbekannt

In Frankfurt (Oder) besuchte Lienau das hiesige Friedrichs-Gymnasium. Er folgte nach dem bestandenen Abitur dem väterlichen Wunsch und studierte Rechtswissenschaften. Als Jura-Student lernte er u.a. die Städte Heidelberg, Berlin und Leipzig kennen. Im 5. Semester beendete Michael Martin Lienau, der, wie es Alfred Götze 1936 formulierte, „Mit dem Herzen“ aber nie Jurist gewesen sei, seine Studien. Ohne entsprechenden Abschluss trat er in die Weingroßhandlung seines Vaters ein. Die renommierte Frankfurter Weingroßhandlung der Familie Lienau betrieb er noch bis zum Jahr 1904 als deren letzter Inhaber weiter.

In seinem 47. Lebensjahr traf Michael Martin Lienau die Entscheidung, die ererbte Lienausche Weingroßhandlung dauerhaft zu schließen. Fortan widmete er sich seiner großen Leidenschaft, der Archäologie. Ihr verschrieb sich Lienau mit „Herz, Hand und Kopf“. Auf seine neue Lebensaufgabe bereitete sich Lienau über mehrere Jahre hinweg gewissenhaft in Theorie und Praxis vor.

Im Jahr 1905 besuchte er den Internationalen Archäologenkongress in Athen. Auf der Veranstaltung trat er mit den führenden Archäologen seiner Zeit in Kontakt. Zu ihnen zählte beispielsweise der schwedische Archäologe Oscar Montelius (1843–1921). Lienau folgte der Einladung des Vorgenannten und absolvierte in Stockholm ein fünfmonatiges fachwissenschaftliches Praktikum bei Montelius und bei dem später auf einen Lehrstuhl für Archäologie an der Universität Uppsala berufenen Prähistoriker Oscar Almgren (1869–1945). Im Folgejahr erlernte Lienau die Grundlagen archäologischer Grabungen und die Aneignung der dafür notwendigen Werkzeuge. Damals beteiligte er sich an mehreren größeren Grabungen, die u.a. durch Christian Blinkenberg (1863–1948), Carl Neergard (1869–1946), Georg L. Sarauw (1862–1928) und Thomsen in Dänemark durchgeführt wurden.

Durch den dänischen Prähistoriker Sophus Müller (1846–1934) wurde Michael Martin Lienau in die archäologische Sammlung des Kopenhagener Nationalmuseums eingeführt. Im Wintersemester 1907/1908 setzte Michael Martin Lienau seine Studien in der Schweiz fort. In Zürich gehörte er zu den Schülern des Schweizer Archäologen Jakob Heierli (1853–1912). Ebenso in der Schweiz vertiefte Lienau seine Kenntnisse im Landmessen. Im Landesmuseum Zürich eignete sich Lienau die verschiedensten Konservierungstechniken an.

Nach dieser praktischen und theoretischen Erlernung der Grundlagen der Archäologie begann Michael Martin Lienau ab 1908 mit eigenen archäologischen Ausgrabungen.

Im Frühjahr 1908 verließ Michael Martin Lienau seine Heimatstadt und begab sich für mehrere Jahre nach Lüneburg. Hier übernahm er die Leitung der Vorgeschichtlichen Abteilung des Museums Lüneburg. In der Stadt an der Ilmenau ordnete er die dortigen archäologischen Bestände neu und in chronologischer Reihenfolge. Zudem ergänzte er die Lüneburger Sammlung um eigene Funde. Nach fünfjährigem Wirken für die Archäologie in Lüneburg und anschließender Grabungstätigkeit für das Museum in Oldenburg sowie einem kurzen Aufenthalt an der Landesanstalt für Vorgeschichte in Halle, kehrte Michael Martin Lienau im Jahr 1913 nach Frankfurt (Oder) zurück. Hier, im in seinem Geburtshaus im Jahr 1905 eingerichteten Museum für Geschichte und Altertumskunde sowie für Kunst und Wissenschaft, widmete er sich dem Aufbau der archäologischen Sammlung. Als einer der wichtigsten Förderer des Frankfurter Stadtmuseums kam Michael Martin Lienau die Ehre zu, als erster unter jenen Stiftern genannt zu werden, die die Einrichtung des Frankfurter Museums mit mindestens 3.000,00 Mark unterstützt hatten.

In der Zeit der Weimarer Republik wurde Michael Martin Lienau zum staatlichen Pfleger für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer für den Pflegschaftsbezirk Frankfurt (Oder) bestellt. Dieses Amt bekleidete er ab Oktober 1923. Seine Aufgabe nahm Michael Martin Lienau mit großem Einsatz wahr. Er überprüfte Fundmeldungen und beteiligte sich selbst im vorgerückten Alter noch aktiv an Grabungen, einschließlich Notgrabungen. Lienau wirkte beispielsweise an den archäologischen Untersuchungen am Lossower Burgwall mit und führte in den 1920er-Jahren mehrere Feinuntersuchungen durch. In seiner letzten Schaffensphase widmete sich Michael Martin Lienau, der als gewissenhafter und akribischer Archäologe wertgeschätzt wurde, vor allem den Siedlungsspuren und den Gräbern der Burgunden.

Abbildung: Ausgrabung auf dem Lossower Burgwall im Jahr 1927. Auf dem Burgwall mit Blick über die Oder stehend: Dr. Wilhelm Unverzagt (links), Michael Martin Lienau (mittig), Studienrat Dr. Hutloff (mittig sitzend). Stadt Frankfurt (Oder), Städtisches Museum Viadrina, Inventarnummer VI/2 10188, Fotografie: „Wide World Photos“. Bilddienst von The New York Times G.m.b.H, Berlin, Kochstraße 28/29

Auf der Suche nach einem adäquaten Nachfolger wirkte Lienau daran mit, dass Dr. Walter Frenzel (1892–1941) im Jahr 1936 als Dozent an die Frankfurter Hochschule für Lehrerbildung versetzt wurde. An die vorgenannte Institution übergab die Stadt Frankfurt (Oder) leihweise Lienaus archäologische Fachbibliothek, welche die Stadt vordem aus dem Besitz von Michael Martin Lienau erworben hatte.

Unterstützung fand Michael Martin Lienau zeitlebens bei seiner Frau Elisabeth. Sie entstammte der Weinhändlerfamilie Goettsche aus dem holsteinischen Glückstadt. Die Ehe galt als glücklich, blieb jedoch kinderlos. Das Verdienst von Elisabeth Lienau bestand vor allem darin, die Grabungen ihres Gatten gewissenhaft und akkurat zu dokumentieren – ein Talent, das Michael Martin Lienau von Natur aus nicht gegeben war. Förderlich wirkte sich hierbei aus, dass Elisabeth Lienau ihren Gatten auf dessen Bildungsreisen begleitet hatte und speziellen Unterricht im Vermessen sowie im Zeichen von Bodenprofilen und Plänen genommen hatte. Ergänzung fand diese Gabe der Frau durch deren Passion für die Fotografie.

Lienaus Grabungs- und Forschungsergebnisse fanden ihren Niederschlag in weit über 30 Aufsätzen.

Vor größere wirtschaftliche Herausforderungen wurde Michael Martin Lienau durch die in den 1920er-Jahren heraufziehende Inflation gestellt. Ursächlich hierfür war unter anderem, dass der auf dem Lienauhaus in der Großen Oderstraße stehende und für Lienau jährlich zu verzinsende Kapitalstock aufgezehrt wurde. Die finanzielle Lage der Familie verschlimmerte sich derart, dass auch das „Villa Lienau“ genannte Sommerhaus in der Halben Stadt notgedrungen veräußert werden musste. Als Käufer der Villa trat die Stadt Frankfurt (Oder) in Erscheinung, die Michael Martin Lienau und seiner Ehefrau ein lebenslanges Wohnrecht an seinem Wohnsitz zusicherte.

In Fachkreisen geehrt, war Michael Martin Lienau u.a. Ehrenmitglied im Museumsverein für das Fürstentum Lüneburg, er war korrespondierendes Mitglied des Schlesischen Altertumsvereins sowie der Wiener Prähistorischen Gesellschaft. In Anerkennung um Lienaus Verdienste bei der Begründung der „Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte“ wurde Michael Martin Lienau im Jahr 1935 der goldene Ehrenring des „Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte“ verliehen.

Am 26. August 1936 schied Michael Martin Lienau – in seinem 80. Lebensjahr stehend – friedlich aus dem Leben.

Abbildung: Das zerstörte Frankfurter Stadtmuseum im ehemaligen „Lienauhaus“ in der Oderstraße 15. Die Aufnahme entstand in den Jahren 1945/1946. Stadt Frankfurt (Oder), Städtisches Museum Viadrina, Inventarnummer VI/2 4577e, Fotograf unbekannt, vermutlich Fricke

Das Lienauhaus und damit das Geburtshaus von Michael Matin Lienau wurde im Frühjahr 1945 durch Brandstiftung zerstört. Damit ging der Stadt Frankfurt nicht allein ein einmaliges Baudenkmal aus der Zeit des Barocks verloren, sondern ebenso die komplette stadt- und regionalgeschichtliche Sammlung des darin seit 1905 untergebrachten Museums. Seit dem Jahr 1957 bemüht sich das Städtische Museum Viadrina, seit 1991 unterstützt durch den Verein der Freunde und Förderer des Museums Viadrina e.V., die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlittenen Sammlungsverluste durch Nach- und Neuerwerbungen zu kompensieren.

Quelle: Alfred Götze, Michael Martin Lienau. In Mannus. Zeitschrift für Deutsche Vorgeschichte, 28. Jahrgang, Heft 4 (1936), S. 539–544